DER HEILIGE GRAL UND DIE HEILIGE LANZE

 

 Was ist der Gral? 

Gral soll der mittelalterlichen Literatur zufolge ein wundertätiger und heiliger Gegenstand sein, der weltliche und himmlische Glückseligkeit verheißt. In der Gralsdichtung heißt es, er stehe symbolisch für die ideale Symbiose des Irdischen mit dem Göttlichen. Allerdings kann der Gral nur von auserwählten Personen gefunden werden und auf ihm stehe eine geheimnisvolle Inschrift, die sich nur dem Würdigen offenbare.

Kurzum: Den heiligen Gral finden bedeutet, die Welt zu erkennen. Wer im Besitz des heiligen Grals ist soll die Welt durchschauen und sich somit über sie erheben können. Der Besitzer des heiligen Grals ist der Überlieferung nach nicht mehr Knecht der den Menschen immer wieder Schmerz und Tod bringenden Erdengesetze. Den Gral zu haben bedeutet, nicht mehr von der Erde (Terra) geknechtet zu werden. Wer die Gesetze der Erde durchschaut und sie so überwindet, für den verliert die Erde (Terra) ihre ansonsten mit ihr unabwendbar einhergehenden Schrecken (Terror). Ein derart erleuchteter Mensch entgeht dem größten Schrecken überhaupt, und das ist aus der Erdperspektive heraus gesehen der (körperliche) Tod. Dem Diktat des Todes zu entgehen und unsterblich zu werden, bewegt viele Gemüter und hat das Interesse an dem Gral genährt. Jener Drang zur Unsterblichkeit hat eine Vielzahl von Legenden um die Suche nach dem heiligen Gral hervorgebracht. Die Suche nach der (körperlichen) Unsterblichkeit geht aber von einer beschränkten Weltensicht aus und wird vom Auge des Fleisches und nicht vom Auge des Geistes gelenkt. Folglich geht sie davon aus, dass es sich um einen "irdischen", diesseitigen Gegenstand handelt und nicht um etwas "Geistiges" wie eine Idee, ein übergeordnetes Ziel oder einfach eine archetypische Wesensart. Das stellt die Verfasser heiliger Schriften oder auch Dichter vor eine schwierige und nahezu unlösbare Aufgabe.

Eine literarische Ausführung ist eine Ausformung. Indem sie etwas Geistiges ins Bild setzt bedient sie sich zwangsläufig der Form. Welche Form der Dichter auch immer wählt, sie wird dadurch zwiespältig und missverständlich. Nicht anders ist das mit dem Bild des Grals. Für den einen ist es ein Gefäß oder eine Schale, wie in der hier beschriebenen Weise. Für den anderen ist es ein Stein, der sogenannte "Stein der Weisen". In Wolfram von Eschenbachs Parzival wird der Gral als "Stein mit wundertätigen Eigenschaften" aufgefasst. Dabei nennt er ihn "lapsit exillis". In vielen anderen Erzählungen ist es ein wundersames "Elixier", eine Substanz oder »Prima Materia«, die ewiges Leben schenkt. In der heutigen Wissenschaft würden wir vielleicht »Weltformel« dazu sagen. Immer aber ist es eine letztgültig zu erkennende Form, Formalität oder Formel - eben DAS, woraus alle Formen erwachsen. In Wirklichkeit handelt es sich um etwas Geistiges mit einem minimalen aber notwendigen Formenanteil oder besser gesagt, um etwas, was die Grenze zwischen dem Geistigen und der Form beschreibt. Wenn die literarischen Ausformungen deshalb in ihrer Formenwahl wörtlich und allzu konkret genommen werden, geht die Suche nach dem Gral an ihrem eigentlichen Sinn vorbei.

Die Vorstellung von einem heiligen Gral und ihrer Auffassung als Gegenstand nimmt seinen Ausgang von den biblischen Kreuzigungsberichten in den Evangelien des Neuen Testaments. Demnach soll Josef von Arimathia* in einem Kelch - dem späteren heiligen Gral - das Blut des Erlösers aufgefangen haben, das aus der sogenannten Seitenwunde geflossen sein soll, die von einem römischen Söldner mithilfe eines Speers verursacht wurde. Das Gefäß symbolisiert also die Fähigkeit, das Erlöserblut* und somit die Erlösung selbst, aufnehmen zu können.

All das hat symbolische Bedeutung. Das Aufnehmen und Empfangen der Erlösung setzt voraus, dass man den Vorgang der Kreuzigung in seiner Symbolik begreift und dessen Inhalt ergründet. Jener Inhalt, nämlich das Gesetz der Welt, wird von einem erleuchteten Menschen (Jesus) überbracht und von einem empfangsbereiten aufgefangen. Für das Auffangen steht der Becher, das Gefäß, genannt der Gral. Dabei wird das auffangende Gefäß in der Bibel weder als solches beschrieben noch erwähnt. Erst die außerbiblische Literatur beschäftigt sich mit ihm, und nach ihr ist das Gefäß nicht irgendeines, sondern der Abendmahlskelch.

Im Gral begegnen sich somit zwei Bilder, das des Abendmahlskelchs und das des durch die Kreuzigung vergossene Blutes Christi. Die Verbindung beider ist offensichtlich eine inhaltliche und kaum eine historisch authentische.* Inhaltlich gehören beide aber sehr wohl zusammen. Der Wein des Abendmahls war ohnehin das Symbol des Blutes Christi. Mit der dann geschehenen Kreuzigung war es nur folgerichtig, dass das real vergossene Blut in diesen Kelch aufgenommen wurde. Der Kelch und das Blut des Erlösers gehören zusammen und verbinden sich über das Opferprinzip, das Empfangen. Opfern und Empfangen entsprechen dem Archetypus des Weiblichen. Diese neutestamentliche, christliche Sichtweise auf die Welt bildet den Gegenpol zu der ihr vorangehenden alttestamentlichen, jüdischen Sichtweise, in der das männliche Prinzip der Durchsetzung und Stärke die Sicht auf die Schöpfung prägt. Beide ergänzen sich und versuchen, auf die ihr eigene Weise den Gegenpol und scheinbaren Widersacher zu integrieren. Die von einer vorhandenen Durchsetzungsfähigkeit und Stärke ausgehende jüdische Religion beschreibt vordergründig den Willen zur Tat und ihren Vollzug, gipfelt aber inhaltlich im Empfangen des Gotteswillen.* Umgekehrt beschreibt die vom Geschehenlassen und scheinbarer Schwäche (Handeln durch Nichthandeln) ausgehende christliche Religion vordergründig Leiden und Mitgefühl, gipfelt aber inhaltlich im bewussten Vollzug der göttlichen Offenbarung durch das Fließen von Blut. Beide Sichtweisen ergänzen sich, und beiden Sichtweisen fehlt naturgemäß etwas, um dessen Integration sich ihre religiösen Lehren bemühen. Um das jeweilig Fehlende zu verstehen und zu transportieren wird es in Bilder und Symbole umgesetzt. 

Der Gral, dem zuvor in den biblischen Texten keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, wurde ebenso wenig im ganzen ersten Jahrtausend beleuchtet. Nicht zufällig kam er ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ins Gespräch, als die Kreuzzüge ihren Höhepunkt und die Tempelritter den Gipfel ihrer Macht erreicht hatten. Im 12. und 13. Jahrhundert tauchten in Europa gleich mehrere Versionen einer Gralsgeschichte auf. Die Artus- und Gralslegenden gehörten zu der am weitesten verbreiteten Lektüre im hohen und späten Mittelalter, sodass man geradezu auf ihre innere Notwendigkeit schließen kann. Ganz offensichtlich fehlte dem sich damals aggressiv durchsetzenden Christentum genau das, was der Gral symbolisierte, nämlich die erlösende weibliche Qualität. 

Ölgemälde: Christus und die Heilige Lanze

Die heilige Lanze, Ölgemälde (1930-1941) von
Franz Stassen, Museum Hanau Schloß Phillipsruhe

Um die mit dem Gral verbundenen Bilder besser zu verstehen, beziehen wir uns hier auf das wohl bekannteste Epos über den Heiligen Gral, auf den von Wolfram von Eschenbach verfassten »Parzival«*:

Merlin  hatte die Tafelrunde geschaffen und verkündet, durch ihre Mitglieder würde die Wahrheit des heiligen Grals überall bekannt werden. Dieser Prophezeiung zufolge wurden die besten Ritter der Christenheit in den Bann des Grals gezogen. Sie hatten nur noch ein Ziel, denn sie hatten geschworen, ihr Leben der Suche nach dieser alle Geheimnisse bergenden Kostbarkeit zu weihen. Nicht eher wollten sie ruhen bis sie ihn gefunden und sein Geheimnis gelüftet hätten. 

Die Tempelritter (Templer*) waren so die "Hüter des Heiligen Grals". Als ausgleichende Sühne für ihre Sünden nehmen sie bei ihren Abenteuern sowohl Sieg wie Niederlage gleichmütig hin. Das wundert, denn die Hüter des Grals sind ja von besonderer Reinheit. Dieser scheinbare Widerspruch macht deutlich, dass es hier um das Prinzip des Ausgleichs geht und nicht um den meist missverstandenen Sündenbegriff. Trotz der Lauterkeit der Ritter leidet gerade der Gralskönig Amfortas an einer Verwundung, weil er das Keuschheitsgebot nicht eingehalten hat. Das es gerade der König ist, dem etwas fehlt, zeigt, auf welchem hohen Niveau die Integration des Fehlenden geschehen muss. Es geht also nicht darum, auf die vorangehende Entwicklungsstufe zurück zu verfallen, sondern vom Niveau der Ritter aus eine neue Qualität zu erreichen, die des Weiblichen bedarf. Mit anderen Worten, geht es nicht darum, in die primitive Natur zurück zu fallen, die ebenfalls ein weiblicher Archetypus ist, sondern nach Erreichen eines männlichen Gipfelpunktes das Weibliche auf dem höherem Niveau neu auszudrücken und zu offenbaren. Auf die Religionen bezogen bedeutet das, das Fremde, insbesondere das Judentum, die Religion des Alten Testamentes, zu integrieren und nicht etwa zu demütigen, sondern es auf einem hohen christlichen Niveau in ein noch größeres Ganzes einzuschließen. 

Wenn Amfortas durch die Missachtung des Keuschheitsgebotes verwundet worden ist, dann ist er vom Weiblichen verwundet worden. Das Weibliche das ihn verwundet hat, hat etwas mit dem ihm Fehlenden zu tun und damit mit ihm und seiner Sichtweise selbst. Was ihm fehlt, ist eine hohe, wohlwollende und befruchtende Weiblichkeit. Diese muss er erkennen und sich mit ihr verbinden. Das Keuschheitsgebot war ein Abgrenzungsgebot gegenüber der unbewussten, verschlingenden Natur, nicht gegenüber dem Weiblichen Archetyp an sich.

Die Gralsgeschichte des Christentums berichtet vom "Verlust des Grals", und der ist seinem allgemeinen Sinn nach der Verlust der weiblichen Energie. Diese ist aber vielfältig und graduiert und entspricht dem Erkenntnisvermögen und Bewusstseinszustand des "Ritters" oder "Königs". Es ist ein Ausdruck der Natur, die stets auf höhere Weise wiederentdeckt werden will. Die Natur und der Gral sind ein Symbol des ewigen Lebens. In Wolfram von Eschenbachs Bildern ist es der Kessel, aus dem das Diesseits gespeist wird (die Gaben der Mutter Erde) und der Kessel in dem die Toten wiedererweckt werden. Es ist die vollkommene (Mutter-)Natur, aus der alles kommt und zu der alles zurückkehrt, um aus ihr wieder geboren zu werden - eben der weibliche Archetypus als Zyklus von Geburt - Leben - Tod.

Die Erkenntnis über den Gral gleicht einer Spirale und hat kein Ende. Sie bringt dem würdigen, vorwärtsdrängenden Ritter stets neue Erkenntnisse und Erfüllung. Sie entspricht seinem jeweiligen Reifegrad.* Nur aus dieser Tatsache heraus versteht man das von Eschenbach gezeichnete Bild einer alljährlich vom Himmel kommenden Taube, die auf das geheimnisvolle "dinc" die Hostie legt und so seine Kraft erneuert, die u. a. Jugend verleiht und Speisen in jeder gewünschten Fülle spendet.*

In Wolfram von Eschenbachs Parzival-Dichtung ist der heilige Gral Träger eines religiösen Zentralgeheimnisses. Parzival der Gralssucher will mit dessen Ergründung den kranken König Amfortas retten. Er will den königlichen Menschen (5) zu der seiner Natur (4) gemäßen Vollkommenheit (1) bringen. 

Inwiefern das Geheimnis des Grals mit der Symbolik der Kreuzigung und dem Zahlengesetz »1 = 4« identisch ist, entnehmen wir - wenn wir die Symbolik einmal durchschaut haben - dem Text Eschenbachs sehr deutlich. An entscheidender Stelle, als Parzival vor der Pforte* der Gralsburg steht, werden ihm zwei Fragen gestellt: "Wem dient der Gral? Was ist sein Geheimnis?" Auf die erste Frage antwortet er: "Dir, König." Auf die zweite Frage, "Du und Dein Land, Ihr seid eines!" Die erste Frage überprüft das Wissen, ob der Suchende sich darüber im klaren ist, dass alles unter der Macht der Einheit (König) steht. Die zweite Frage wird diesbezüglich konkreter und fragt die auf die konkrete Form (4) bezogene Konsequenz ab. Die zweite Frage "Was ist sein Geheimnis?" und deren richtige Antwort "Du und Dein Land, Ihr seid eines!" setzt das Gesetzt »1 = 4« unmittelbar und sichtbar ins Bild. Der König, die Einheit (1), und das Land, das Konkrete (4), sind untrennbar. Sie sind eines. Einheit (1) gleich Vielheit (4), Gott (1) gleich Schöpfung (4) oder Vollkommenheit (1) gleich scheinbarer Gebrochenheit (4) sind die unterschiedlichen Ausdrucksweisen ein und der gleichen Weisheit. Einmal in deren Besitz gelangt überwindet der Wissende die Angst vor Krankheit und Tod und wird dadurch in einer neuen geistigen Ebene wiedergeboren.

Das Ziel einer Gralssuche ist das Erkennen und Begreifen einer Urformel, die der weniger lyrisch begabte, rationale und wissenschaftliche Geist in den zwei Zahlen »1« und »4« und ihrem Zusammenhang erkennen kann. Diese abstrakte Art der Zusammenfassung hat einen Vorteil. Sie löst sich in der Art der Mathematik von den konkreten, dinggebunden und immer unvollkommenen Bildern - wie dies beispielsweise das vom Grals ist - und dringt zu den hinter ihr stehenden Archetypen vor. Das ist deshalb wichtig, weil alles auf dieser Welt polar ist und nichts außerhalb der Polarität existieren kann. Jede Darstellung der an sich vollkommenen Weisheit ist deshalb stets eine "geschlechtliche", zu der es immer eine gegenpolare, "gegengeschlechtliche" gibt, die zum gleichen Ziele führt. Wer zur Abstraktion fähig ist, besitzt potentiell die Fähigkeit, dem tödlichen Streit mit seinem Gegenpol zu entkommen. Er begreift, dass er nur mit dem Gegenpolaren zusammen ein größeres Ganzes bilden kann. Ohne die gegenpolare, gegengeschlechtliche Sichtweise bliebe er immer unvollständig.

Dem Gesetz der Polarität folgend muss auch der heilige Gral - der in Wolfram von Eschenbachs Parzival, ein Symbol der Ganzheit und Vollkommenheit ist - einen gegengeschlechtlichen Pol haben, der ebenso die Vollkommenheit vertritt wie der Gral selbst. Der heilige Gral bedeutet das »Empfangen« der Erlösung. Das Gefäß symbolisiert somit den "weiblichen Genre" der Erlösung, dem zwangsläufig ein zu ihm polarer, männlicher gegenübersteht. Jener wird symbolisiert durch einen aktiven, spaltenden Vorgang. Symbolisch wäre das ein Schwert, ein Spieß oder ein Nagel. Gefäß (weiblich) und Schwert (männlich) erst ergänzen sich symbolisch wie Schraube und Mutter es für den Techniker tun. In ihrer Verbindung werden sie ihrer wahren Funktion zugeführt. So finden wir in der Kreuzigungsgeschichte den symbolischen Gegenpol zum Gral konkret im Speer des römischen Soldaten namens Longinus, der die Seite des gekreuzigten Christus trifft und die blutende Wunde verursacht (Joh 19,34) Ein anderes, ebenfalls zum heiligen Gral gegenpolares Symbol sind auch die vier Nägel, die dem Gekreuzigten durch seine Extremitäten getrieben werden.*

Dem  »Speer von Golgatha« oft auch genannt ''Speer des Schicksals'', werden seit nunmehr 2000 Jahren erstaunliche okkulte Kräfte zugeschrieben. Da er die männliche Art des Erlösungsvorganges darstellt, wurde er zum Herrschaftssymbol für Könige und Kaiser (s. Anhang: Die Symbolik des Schwertes »Excalibur«).

Heute wird in der Wiener Hofburg (Reichskleinodien) ein geschichtsträchtiger Speer aufbewahrt, den Könige und Kaiser als die heilige Lanze des Longinus verehrten. Erstmals wirklich identifizierbar beschrieben hat die dort zu besichtigende Reliqie Liudprand von Cremona im 10. Jahrhundert. Nach ihm bekam König Rudolf II. von Burgund 921/922 jene unbesiegbare Waffe von dem italienischen (lombardischen) Graf Samson als Symbol der rechtmäßigen Herrschaft über das norditalienische Regnum Italicum überreicht, nachdem dieser in Streit mit Kaiser Berengar geraten war und Rudolf um Beistand ersuchte.

König Heinrich I., von 919 bis 936 Kaiser des Deutschen Reiches und der bedeutendste Herrscher seiner Zeit, wollte unbedingt in den Besitz der "Insignien-Reliquie" kommen und umwarb dafür vergebens den Burgunderkönig mit Geschenken. Nur unter Kriegsandrohung war dieser im Jahr 935 bereit, die heilige Lanze gegen einen Teil Schwabens, der Südwestecke des "Regnum Theutonicorum" mit Basel, einzutauschen.

Als König Heinrich I. von Rudolf II. von Burgund die "Heilige Lanze" erwarb, erwarb er gleichzeitig auch das Symbol der Herrschaft über Italien. Dem gerecht werdend erklärte er, die rivalisierenden Adelsfamilien zur Treue gegenüber einem italienischen König zu verpflichten sowie Italien vor ungarischer und arabischer Bedrohung zu schützen. Die "Heilige Lanze" versinnbildlicht infolgedessen den Beginn des Engagements deutscher Könige in Italien und ist somit eng verbunden mit dem Begriff des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. In ihr verschmolz Reliquie und Herrschaftszeichen. Das förderte die von der Lanze ausgehende Magie und machte sie zur vornehmsten Reichsinsignie auch in salischer und staufischer Zeit.*

Wie bei den zahllosen Gralslegenden kam es genauso bei der sogenannten heiligen Lanze zu einer reichen Legendenbildung. Künstler, religiös Suchende und Betrüger ließen sich gleichermaßen faszinieren und in ihren Bann ziehen. Noch heute erscheinen Abhandlungen über den scheinbaren Verbleib der Lanze und ihrem Wirken seit dem Niedergang des Römischen Reiches bis in unsere Zeit hinein. So erzählt Ravenscroft* von deren vermeintlichen Besitzern - von Herodes bis Hitler - und wie diese versuchten, mit Hilfe der geheimen Kräfte der Lanze den Ablauf der Geschichte zum Guten oder Bösen zu wenden.

                             
Hitler als Gralsritter auf einem Plakat von 1936

Hitler als Gralsritter auf einem Plakat von 1936

Bei all dem mit ihr immer wieder gesehenen geschichtlichen Schicksalen ist es von einiger Bedeutung von ihrem wahren Wert zu wissen. Dass es sich um die in der Bibel erwähnte historische Waffe handelt, kann aufgrund ihrer Struktur und der wissenschaftlichen Tatsachen heute niemand mehr ernsthaft behaupten.* Der Reliquiencharakter beschränkt sich deshalb auf die Behauptung, in ihr wäre bei der Herstellung der Rest eines Kreuznagels eingearbeitet worden, der heute - außer durch seine Wirkung - nicht mehr nachweisbar ist.

Stützen wir uns auf die biblischen Quellen, dann stellen wir fest, dass dort der sogenannten heiligen Lanze und dem Kelch des Joseph von Arimathia keine weiteren Bedeutungen zugemessen werden. Die Legendenbildung geschieht also außerbiblisch. Dessen ungeachtet wurde sie von der Kirche gefördert. In einem päpstlichen Schreiben aus dem 13. Jahrhundert wird die heilige Lanze als sogenannte doppelte Passionsreliquie bezeichnet. Eine Doppelreliquie ist sie insofern, da sowohl die Lanze als auch der Kreuzesnagel Objekte religiöser Verehrung waren. Ab dem 14. Jahrhundert begegnen wir ihrer offiziellen Deutung als Passionslanze.

Mit der Reliquienverehrung befriedigt die Kirche das Bedürfnis vieler Menschen welche nicht oder noch nicht symbolisch und abstrakt denken können und welche nur im überaus Konkreten eine Heimat finden. Die Kirche bedient sie mit der Zur-Verfügung-Stellung heiliger Reliquien. Die heilige Lanze ist eine solche. 

Besonders interessant ist hier die Frage, mit welchen Symbolen die Reliquienmacher die Reliquie ausgestattet haben, damit sie ihren zweifachen Sinn erfüllt? Die Reliquie sollte ja nicht nur eine magische Wirkung ausüben sondern vor allem auch den wahrhaft Suchenden die Chance geben, über den symbolischen Gehalt der Reliquie an tiefere Weisheiten zukommen. Das jedenfalls ist das eigentliche Anliegen der Religion das wir den Reliquien machenden Hohepriestern generell unterstellen wollen. 

Originalabbildung: die Heilige Lanze aus der Wiener Hofburg

Sehen wir dazu genauer auf die Reliquie und ihre Symbole. Wir werden dabei immer wieder auf die geheimnisvolle Zahl Vier stoßen, die direkt oder in Analogien auf das Urgesetz der Schöpfung verweist. Die Vier ist sowohl in ihrem weiblichen Aspekt (Gral), als auch in ihrem männlichen (Lanze) die materialisierte, konkrete Welt, die mit Gott, dem Urgrund der Schöpfung eine Einheit bildet (1= 4).

Liudprand von Cremona, bei dem wir die erste identifizierbare Beschreibung der Reliquie finden, erwähnt nicht nur ausdrücklich den Kreuznagel, von dem es ja bekanntlich vier gab. Besonders ausdrücklich erwähnt er ihn in Verbindung mit den Kreuzen (4), die auf jenem Dorn (1) angebracht wurden der später in das Lanzenblatt eingearbeitet wurde. Außerordentlich deutlich wird er, wenn er von einem "Kleinod, durch welches Gott das Irdische (4) mit dem Himmlischen (1) verknüpft"* spricht. 

Der detaillierte Blick auf die Lanze und auf ihre Geschichte bestätigt die überall versteckte Symbolik »1 - 4«: Die Heilige Lanze ist eine etwa um das Jahr 800, also in langobardisch-karolingischer Zeit aus Stahl gefertigte Spitze einer fränkischen Flügellanze, wie sie zu dieser Zeit in weiten Teilen Europas verbreitet war. Sie ist knapp 51 cm lang. Aus der Mitte des Lanzenblattes wurde ein spitzovaler Durchbruch ausgestemmt. An seine Stelle platzierte man einen mit eingelegten Goldkreuzen verzierten Eisen-Dorn. Er gilt als Nagel vom Kreuze Christi bzw. als dessen Sinnbild. Nagel und Lanzenspitze sind durch eine vierfache Umwickelung aus Silberdraht miteinander verbunden

Die Teile der Heiligen Lanze

Unterhalb des Nagels ist die Lanze gebrochen. Die Bruchstelle wird von drei übereinanderliegenden Manschetten bedeckt. Die unterste ist ein einfaches Eisenband und stammt bereits aus ottonischer Zeit.* Im 11. und im 14. Jahrhundert wurde die Lanze jeweils durch wichtige Symbole ergänzt. Kaiser Heinrich IV. (1084/1105) ließ über das Eisenband ein zweites Band, die sogenannte Silbermanschette legen, die eine zwiespältige Inschrift enthält. Diese zweite Ummantelung sorgt noch heute für den nicht in die heilige Symbolik Eingeweihten für eine Zwiespältigkeit im Verstehen der Reliquie, denn in der Inschrift ist zwar die Rede vom sogenannten Kreuznagel, doch die Lanze wird nicht nach dem römischen Hauptmann Longinus benannt, der die Seitenwunde Christi verursachte und weshalb sie mitunter als »Longinuslanze«.bezeichnet wird (s. Anhang Longinus.doc), sondern nach dem hl. Mauritius. Der hl. Mauritius starb mit seiner 6.666 Mann starken römischen Legion Ende des 3. Jahrhunderts den Märtyrertod. Der Inschriftentext spricht erstmals auch von einer zweifachen, also einer "Doppelreliquie".

Über die von Heinrich IV. angebrachte Silbermanschette hat Karl IV. wiederum eine die beiden ersten verdeckende Goldmanschette anfertigen lassen, deren 4 Ecken auffällig hervorgehoben sind und die eine aus vier Buchstaben bestehende Inschrift trägt: +LANCEA ET CLAVUS DOMINI.*

Insgesamt besteht die Lanze aus 4 Metallen: Eisen, Silber, Gold und Messing. Das vierte Metall, Messing, ist bekanntlich ein Mischmetall* und diente zum Tauschieren* der schon erwähnten Kreuze. 

Der den Nagel symbolisierende Eisenstift lässt sofort erkennen, dass er seiner Form wegen nie wirklich die Funktion eines Nagels hätte erfüllen können. Obwohl er an der gleichen Stelle wie auch die Lanze abgebrochen ist und wegen des verlorenen gegangenen unteren Drittels das für ihn ausgesparte Loch nicht mehr ausfüllt, so erkennt man doch, dass er ursprünglich nach unten ebenso lanzenartig endete wie nach oben. Daraufhin weist die nach unten konisch zulaufende Form des für ihn angebrachten Schlitzes. Der Dorn sah an beiden Enden gleich aus. Somit handelt es sich also um ein symmetrisches Gebilde mit zwei Spitzen. Zwischen den Spitzen liegen drei Erhöhungen, die mit den erwähnten Kreuzen markiert sind. Hier begegnet uns sowohl die Dreizahl als auch das Symbol der Vier. Beide zusammen machen das Mysterium des Kreuzes aus, das uns den Sinn und den Umgang mit Symmetrie lehrt. Der mit dem Kreuz Konfrontierte ist ein Handelnder (3). Darunter ist auch Handeln durch Nichthandeln zu verstehen. Es kommt darauf an, dass der mit ihm Konfrontierte bewusst die symmetrischen, gegenüberliegenden Pole verbindet.*

Die alles beherrschende Trinität und das seinerseits in der konkreten Schöpfung herrschende Gesetz der Vierheit (1=4) begründen die Sakralität eines »Herrschers von Gottes Gnaden«. Der Dorn, seine trinitarische und zugleich symmetrische Grundstruktur sowie die in Gold hervorgehobenen zentralen Kreuze symbolisieren das. Die sichtbare Manifestation der Urgesetze machen den Nimbus der Lanze aus, der sie schließlich zur Herrenreliquie machte. Dabei kann es nicht mehr wundern, dass dieser Nimbus im Laufe der Zeit mit dem Nimbus der zweiten Herrenreliquie, dem des Kreuzspans, verschmolz. Beide symbolisieren unmittelbar das gleiche Gesetz (1=4). Der Kreuzspan ist in seiner Symbolik leichter als die der Lanze und die des Grals zu durchschauen. Das Kreuz ist eindeutig der Vierheit zugeordnet, und der Span ist ein Dorn, eine Spitze, analog der Zahl Eins. Auch aus der gegenpolaren Sicht verliert die Spansymbolik nicht ihren übergeordneten Sinn: Einheit und Vielheit sind eines, so wie das ganze Kreuz und der einzelne Span aus ein und dem gleichen Holz sind.

Es ist, wie schon angedeutet, nicht nur die Lanze an sich, welche diese Gesetze hervorhebt und die Vierzahl bzw. deren unauflösbare Verbindung zur Einheit (1) ins Bild setzten, sondern auch die Legenden um die Lanze tun das.

Die "Beginner" 1 und 4  ( 1= 4 )

 

Der Legende nach waren das Kreuz (4) und die Nägel (1 bzw. 4 x 1) um das Jahr 330 von Helena*, der Mutter Konstantin des Großen und ihm im Heiligen Land wieder aufgefunden worden. Mutter und Sohn stehen für zwei gegengeschlechtliche, aufeinanderfolgende Ebenen (Generationen), wie dies auch die Zahlen 1 und 4 in der trinitarischen Zahlenordnung widerspiegeln (s. Abb.). Konstantin der Große symbolisiert in exemplarischer Weise das Neue, das Andersartige, scheinbar Widersprüchliche (4) und das die Vollkommenheit (1) Repräsentierende. Er war der erste christliche Herrscher und insofern deutlich ein Beginner.

 Die Legende um ihn kreist um ein zentrales Ereignis, das einer Erleuchtung gleichkommt. Der Legende nach sah Konstantin wiederholt im Traum ein Zeichen. Es erscheint in der Sonne (1) und ist mit den 4 Worten verbunden: "IN HOC SIGNO VINCES" (in diesem Zeichen wirst du siegen).*

Konstantin hatte offenbar in dem mythischen Zeichen das göttliche Gesetz erkannt. Über eine Staatsreligion versuchte er es praktisch umzusetzen. Dieses Gesetz einerseits und die Notwendigkeit von Religion als einheitlichen, ideologischen und staatstragenden Überbau andererseits bestimmten sein Handeln. Sein Wirken umfasst seinem Inhalt nach, wie das Folgende zeigt, das der heiligen Lanze:

Konstantin gewährte 313 im Edikt von Mailand jedem Bürger des Reiches das Recht auf freie Religionsausübung und war als Herrscher wiederum in der Durchsetzung dieses Ideals konsequent. Seinen Mitherrscher Licinus, der nach wie vor die Christenverfolgung betrieb, sowie seine ihm zuwiderhandelnde Frau ließ er töten. Sein geschichtliches Handeln insgesamt spricht dabei für sich. Als erster Herrscher erklärte Konstantin der Große das Christentum zur Staatsreligion. Er berief das Konzil von Nicäa ein und ließ viele Kirchen bauen. Auf ihn gehen u.a. die Gründung der früheren Peterskirche in Rom (325), der Grabeskirche in Jerusalem und der Geburtskirche in Bethlehem zurück. 

Konstantin steht für die Erstellung der Einheit (1) in der scheinbar widersprüchlich daherkommenden konkreten Vielheit (4).

Kontakt: stelznerzahlen.com          [ bitte durch @ ersetzen ]