Der 11. September, der «Homo oeconomicus» und kein Ende der Geschichte


Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus brach dem kapitalistischen "System des Marktes" sein gesellschaftlicher Widersacher weg. Mangels alter Weisheiten glaubte man nun, die allgegenwärtigen Gesetzte der Polarität seien hier außer Kraft gesetzt. Da es ohne die befruchtende Polarität keine wirkliche Weiterentwicklung gibt, erschien es nur folgerichtig, zu behaupten die Geschichte sei an ihr Ende gekommen. Diese von dem amerikanischen Regierungsberater Francis Fukuyama stammende These machte die Runde, und sie blieb, von einigen wenigen Kritikern einmal abgesehen, im großen und ganzen unwidersprochen. Die moderne Zivilisation hatte nicht mehr mit größeren Überraschungen gerechnet. Ihr ausschließlich auf die Ökonomie beschränktes Bewusstsein hatte nach Abschluss der Konfrontation zwischen Kommunismus und Marktwirtschaft keinen Platz für eine politisch-ideelle Alternative. Der herrschende Geist, dass alles so bleibt, wie es ist, wurde durch die Wirklichkeit des 11. September jäh in Frage gestellt. Was man bis dahin vergessen bzw. verdrängt hatte, nämlich die Notwendigkeit von Religion, brach unvermittelt in das Bewusstsein ein. Die neue und nun unaufhörlich zelebrierte Formel "dass nichts mehr so sein wird, wie es war", führte nicht nur zu einer neuen Mobilisierung sondern verdeutlichte vor allem die Macht der Religion. Dabei handelt es sich bei weitem nicht nur um die islamische Religion, aus der heraus sich die Angreifer formierten, sondern ebenso um die neue eigene, neu hervorbrechende Religion, die man als die "Zivilreligion des 11. September" bezeichnete. Die Religion war wieder da. Die Sprache der Politiker offenbarte sie. Ihr Vokabular war durchweg das beschwörende Vokabular einer "Erlösungsrhetorik". Der Präsident hat bewusst und erfolgreich die Kräfte, die in der Zivilreligion schlummerten, mobilisiert. 

Das bis dahin herrschende dingliche Denken, ein Denken zwischen den Begriffen "Anfang" und "Ende" und nicht etwa in Prinzipien, führte zu dem Schluss, die Geschichte im Sinne Hegels (These, Antithese, Synthese) sei selbst an ihr Ende gekommen. Solches Denken war keineswegs neu. Es hatte bei der Herausbildung der materialistischen Weltanschauung seine Vorbilder. Nicht nur der geistige Urvater des Materialismus, Marx, postulierte eine gesellschaftliche Erfüllung, die potentiell zu einem Ende ihrer Entwicklung führen sollte, sondern auch einige andere, wie beispielsweise der französische Regierungsberater und Stalin-Bewunderer Alexandre Kojeve. So wie dieser die dialektische Entwicklung immer neuer Systeme, wegen des eines Tages gestillten Verlangens der Menschen nach Anerkennung für überflüssig ansah, so sah auch Fukuyama die gesellschaftliche Entwicklung in der liberalen Demokratie erfüllt. Seine im Nachhinein enthüllte Peinlichkeit war indes ein Ausdruck seiner Zeit. Es war ein Ausdruck durchgängig dinglichen Denkens, das sich der Zweiheit (Polarität) verschrieben hatte und sich immer nur zwischen einem Anfang und seinem Ende bewegte. Derartiges Denken verfehlt den Sinn jeder Evolution, nämlich den ständigen Dimensionswechsel. In Bezug auf die potentiell angelegten geistigen Dimensionen des Menschen bedeutet der Dimensionswechsel die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinweg zu schauen und die Prinzipien zu schauen. Das dingliche Denken ist das herausragende Merkmale der Moderne, und es findet sich nicht nur in der Politik und Gesellschaftswissenschaft sondern auch in ihren Naturwissenschaften. Es mit seiner alles beherrschenden Rationalität und Objektivität zu überwinden, ist eine gewaltige Herausforderung. Darwins Erkenntnisse bezüglich des rechten und gemäßen Verhaltens von Individuen zum Zwecke der Auswahl des Fittesten war prinzipiell ein richtiger Ansatz. Als seine Thesen aber zum Darwinismus verkürzt wurden, wurde aus dem Streben nach "gemäßen Verhalten" der platte pragmatische "Kampf ums Überleben". "Überleben" ist für den vom Geiste beseelten Menschen, der sich über die natura naturans erhebt, mehr als ein einfaches physisches Überleben. Der Mensch will den Tod besiegen. Das aber ist keineswegs ein Ausweichen vor dem Tod sondern seine Anerkennung als eine Errungenschaft des "Prinzip Lebens". Deshalb braucht er Religion und Philosophie sowie eine ihm gemäße Ethik.

Es liegt eine eigene Logik darin, dass der Irrglaube der Moderne an eine von allem losgelöste Materialität und an den alles beherrschenden Überlebenstrieb gerade durch Selbstmordattentate erschüttert wurde. Denn ein Selbstmordattentat ist die denkbar radikalste Aufkündigung von Rationalität und Eigeninteresse, zumindest eines lediglich auf die Parameter des Marktes und des Konsums fixiertes Eigeninteresse. Der Homo oeconomicus musste Schiffbruch erleiden, weil er nicht nur nicht das Selbstbestimmungsrecht anderer, traditionaler Kulturen missachtete sondern darüber hinaus durch die Gesetze des Marktes die Auflösung metaphysisch begründeter Organisationsformen betrieb.

Der Homo oeconomicus kollidierte mit dem ihm Fremden, mit der Antirationalität. Selbstmordattentate passten aus keiner Sicht in sein von der Ökonomie und dem Überlebenstrieb gesteuertes Weltbild. Die führenden Terroristen stammten aus wohlhabenden Kreisen und waren in die westliche Konsumkultur integriert. Bin Ladin erfüllt mit seinen internationalen Finanzaktionen durchaus das Bild eines "global players". Dessen ungeachtet war er bereit, sich seiner Religion zu opfern. Nach den Ereignissen des 11. September müssen wir uns fragen:
Wie konnte wir verkennen, dass es noch immer die Religionen und ihrer Kulte waren, welche die Kulturen hervorbrachten? Wie konnten wir vergessen, dass jede Religion die Überwindung des an die Materie gebundenen Subjekts anstrebt und dieses zum Opfer bringt? Nur aus einem solchen Vergessen heraus kann man leugnen, dass es sich bei den Ereignissen um den 11. September im Kern um einen Kulturkonflikt handelt.

Der inzwischen viel beschworene Dialog der Kulturen ist noch sehr weit entfernt. Er setzt erst einmal die Anerkennung einer anderen, gleichwertigen Kultur voraus ehe man voneinander lernen kann. Im Moment haben wir vorerst nur schockartig erfahren, wie verletzlich unsere Kultur wirklich ist und dass unsere vielbeschworene Rationalität und Objektivität natürlicherweise an Grenzen stößt. 

Die Geschichte geht weiter, und sie gestattet uns nicht, noch vor der Herausbildung gegenseitigen vollen Respekts ein Gleichgewicht zu schaffen, in dem wir uns sicher fühlen können. Denn es geht in der Evolution letztendlich nicht um statische Sicherheit sondern um ein dynamisches Systeme im Hegelschen Sinn von These, Antithese, Synthese.

Die die westliche Kultur konfrontierenden islamistischen Idealisten sind fraglos auf einen gefährlichen Irrweg. Lediglich der Kern ihres Handelns, die Notwendigkeit menschlicher Orientierung an Idealen ist von übergeordnetem Wert. Die Gefährlichkeit solchen Irrwegs ist aber keineswegs Zufall sondern spiegelt den ebenso gefährlichen Irrweg der religionslosen Materialisten wider.

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